Kindgerechte Stadtentwicklung?

Kinder und Jugendliche in einer zunehmend urbanen Welt

Einige Fakten & Zahlen:

Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, etwa 3,6 Milliarden Menschen. Vor fünf Jahren waren es nur 38 Prozent. Bis zum Jahre 2030 wird die Zahl der Stadtbewohner um weitere 1,1 bis 1,4 Milliarden Menschen auf knapp 5 Milliarden steigen. Eine große Herausforderung für die städtische Infrastruktur in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern.

Städte generieren bereits jetzt rund 70 Prozent des weltweiten BIP und mehr als 70 Prozent aller Treibhausgasemissionen. Außerdem sind sie für 70 Prozent des Mülls der Welt verantwortlich. Wilde Deponien, ungeklärte Abwässer, Luftverschmutzung und die Beeinträchtigung der öffentlichen Gesundheit gehören zu den Folgen. Ein nicht geringer Teil der rasant wachsenden urbanen Bevölkerung wird in Elendsquartieren wohnen. Bereits jetzt sind es in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern 20-40 Prozent.

Das menschliche Leben spielt sich zunehmend in urbanen Welten ab und mittendrin: Kinder und Jugendliche. Weltweit leben 85 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Entwicklungsländern, eine schnell wachsende Zahl davon in Städten. Etwa 40 Prozent der städtischen Bevölkerung weltweit sind zurzeit Kinder und Jugendliche und im Jahre 2030 werden aktuellen Schätzungen zufolge 60 Prozent aller Städterinnen und Städter nicht älter als 18 Jahre alt sein.

Städte sind Kristallisationspunkte

Städte sind Kristallisationspunkte unseres Lebens. Menschen werden auch weiterhin in Städte ziehen, um der Armut und sozialen Kontrolle auf dem Land zu entkommen, auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven und urbaner Kultur. Tatsächlich basiert das Überleben der Mehrheit der Stadtbewohnerinnen und -bewohner auf einer sozialen Kreativität außerhalb staatlicher Kontrolle und Planung.

In Städten sind die Kontraste zwischen reich und arm, mächtig und ohnmächtig extrem deutlich und werden täglich erfahren: Es gibt viele Lebensgestaltungsmöglichkeiten für die eine und reinen Überlebenskampf für die andere Seite. Ein Gelingen oder Scheitern einer urbanen Entwicklung ist daher auch eine Frage der Vermögensverteilung: zu diesem Schluss kommt UNICEF in ihrem Bericht „THE STATE OF THE WORLD’S CHILDREN 2012“.

Im Mikrokosmos der Städte werden alle Handlungsfelder für eine bessere Entwicklung von Kinder- und Jugendrechten sofort sichtbar. Slumbewohner, insbesondere Kinder, leiden nicht selten unter den Folgen einseitiger Ernährung und Mangel an Trinkwasser sowie unzureichender Sanitärversorgung. Aufgrund schlechter Umweltbedingungen sind sie erhöhten Krankheitsrisiken ausgesetzt. Zugleich fehlen grundlegende medizinische Einrichtungen. Elendsviertel sind besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels und Naturkatastrophen aller Art. Es fehlt an Schulen und Ausbildungszentren. Eine schlechte oder fehlende Anbindung an öffentliche Verkehrssysteme schränkt Entwicklungschancen und die Teilhabe am urbanen Leben im Zentrum der Stadt ein. 

Anstatt zur Schule zu gehen, sind viele Kinder gezwungen, in prekären Verhältnissen im informellen Sektor zu arbeiten, um die  Familie finanziell zu unterstützten. Arbeitslosigkeit, schlechte Jobqualität und unzureichender Ausbildung ergänzen sich auf unheilvolle Weise. Laut UNHABITATs Bericht „State of the Urban Youth Report 2012/2013“ waren in diesen Jahren etwa 90 Millionen Jugendliche arbeitslos. Sie machten etwa 47 Prozent aller Arbeitslosen aus, d.h. fast jeder zweite Arbeitslose weltweit war zwischen 15 und 24 Jahre alt. Weitere 300 Millionen waren und sind vermutlich noch "working poor" – d.h. beschäftigt in ungelernten, unsicheren Verhältnissen unter unbefriedigenden Bedingungen. Die überwiegende Mehrheit arbeitet im informellen Sektor und lebt in Slums. Tatsächlich sind 85 Prozent aller neuen Arbeitsplätze weltweit informell und Slum-basiert. Sie erbringen jungen Menschen nur ein geringes Einkommen und bieten Ihnen kaum Chancen für einen sozialen Aufstieg. Dies betrifft in besonderem Maße Jugendliche auf dem afrikanischen Kontinent.

Über 50 Prozent aller Jugendlichen glauben nicht daran, dass Wirtschaftswachstum ihre Beschäftigungssituation verbessern würde. Enttäuschung, ein Gefühl der Minderwertigkeit, Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft sind die Folgen des Ausschlusses aus dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben ihrer Länder. Gewalt, die sich in Bildung von Jugendbanden niederschlägt, dem Anschluss an kriminelle oder Terrororganisationen, oder auch in häuslicher Gewalt, von der Frauen und Kinder besonders betroffen sind.

Öffentliche urbane Räume werden so zu „no go areas“. Laut einer Studie von Plan International im Jahre 2012 sagten beispielsweise 80 Prozent der Mädchen, dass sie sich in Kampala, Uganda, an öffentlichen Plätzen nicht sicher fühlten. Dies ist übertragbar auf viele Metropolen.

Kinder- und Jugendrechte in der „New Urban Agenda“

Bereits im September 2015 wurde mit der Verabschiedung der Agenda 2030 auf der VN-Vollversammlung mit dem Nachhaltigkeitsziel (SDG) 11 „Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen“ die Rolle der Kommunen als wichtiger Raum für nachhaltige Entwicklung international anerkannt.

Auch in der „New Urban Agenda“, die vom 17. bis 20.Oktober 2016 in Quito, Ecuador, von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, werden viele der Unterziele des SDGs 11 aufgegriffen und weiter konkretisiert. Diese neue Agenda soll als politische Richtschnur für die Stadtentwicklung der nächsten zwei Jahrzehnte bis zum Jahre 2036 dienen.

Die Vision der New Urban Agenda greift bereits zentrale Handlungsfelder auf, die für Kinder und Jugendliche besonders relevant sind:
“…universal access to safe and affordable drinking water and sanitation, as well as equal access for all to public goods and quality services in areas such as food security and nutrition, health, education, infrastructure, mobility and transportation, energy, air quality, and livelihoods; […] prioritize safe, inclusive, accessible, green, and quality public spaces, friendly for families, enhance social and intergenerational interactions, cultural expressions, and political participation […] achieve gender equality and empower all women and girls…”

In acht “Commitments” werden Kinder und Jugendliche explizit erwähnt. Sie betreffen die physische und soziale urbane Infastruktur, die Sicherheit in Städten, sichere und nachhaltige Mobilitätskonzepte, Partizipation und Stärkung lokaler Regierungen, Dialog und Empowerment sowie die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien.

Die kritischen Punkte werden angesprochen. Doch was auffällt: Kinder und Jugendliche werden zwar erwähnt, aber gebetsmühlenartig in dem immer gleichlautenden Satzteil
„…women and girls, children and youth, older persons and persons with disabilities, indigenous peoples and local communities, and those in vulnerable situations...“.

Da klingt ein rein fürsorglicher Ansatz raus: Kinder und Jugendliche gelten als besonders verwundbar, daher schützenswert und förderungswürdig. Als eigenständige Akteure urbaner Entwicklung werden sie offenbar nicht erkannt, obwohl sie in wenigen Jahren mehr als die Hälfte der urbanen Bevölkerung stellen werden.

Zahlreiche Projekte von UNICEF; PLAN, GIZ und anderen beweisen, dass gerade die aktive Beteiligung von Kinder- und Jugendlichen von der Planung, über die Umsetzung bis zur Evaluierung einen wesentlichen Faktor für den Projekterfolg darstellt.

Fazit

“The battle for sustainable development will be won or lost in cities.” heißt es in der Präambel der “New Urban Agenda”. Dieser Kampf kann nur gewonnen werden, wenn Kinder und Jugendliche einbezogen werden, ihnen eine Stimme gegeben wird und Erwachsene sie ernst nehmen. Bleibt zu hoffen, dass Erwachsene zu dieser Entwicklung und diesem Mut fähig sein werden und sie Erziehung nicht mehr als „organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend“ begreifen, wie es mal Mark Twain formulierte, sondern bereit sind, mit Kindern und Jugendlichen ernst gemeinte Entwicklungspartnerschaften einzugehen.

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Autor: Burkhard Vielhaber | info(at)kinder-und-jugendrechte.de | erstellt im Oktober 2016

Die Inhalte dieses Artikels geben die Meinung des Autors und nicht notwendigerweise die der GIZ oder des BMZ wieder.