Erhebungen unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland als auch in vielen anderen Ländern weltweit ergaben, dass etwa durchschnittlich 50 – 65% aller Befragten vor ihrem 18. Lebensjahr sexualisierte Gewalt erfahren haben. Das Spektrum ist dabei groß. Es reicht von verbalen Attacken, unangemessenen Berührungen, der Verbreitung privater Fotos und sexuell motivierten Annäherungsversuchen in sozialen Medien bis hin zu schweren Fällen sexueller Gewalt, wie beispielsweise die Erstellung von digitalem Material über sexuelle Ausbeutung und sexuelle Nötigungen. Insgesamt berichten Mädchen (je nach Land ca. 55 – 70%) häufiger von Gewalterfahrungen als Jungen (ca. 35 – 50%). Die Auswirkungen für die Betroffenen wie auch auf unsere Gesellschaft sind dabei so gravierend (s.u.), dass in der Abschlusserklärung der G7 vom Juni 2022 die Innenminister*innen aufgefordert wurden, die Umsetzung des Aktionsplans zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern vom September 2021 voranzutreiben.
Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ hat im deutschen Strafrecht den Begriff „sexueller Missbrauch“ abgelöst, da letzterer den falschen Anschein erwecken könnte, dass es einen „normalen sexuellen „Gebrauch“ bzw. Kontakt mit Kindern und Jugendlichen geben könnte und zudem verharmlosend wirkt, da er das Ausmaß der Gewalt nicht ausreichend erfasst. Doch auch der Begriff „sexualisierte Gewalt“ ist erklärungsbedürftig, denn Kindern gegenüber sind alle sexuellen Handlungen als sexualisierte Gewalt strafbar – egal ob diese mit oder ohne Körperkontakt durchgeführt werden. Dies gilt auch dann, wenn das Kind vermeintlich einverstanden ist oder die sexuelle Handlung sogar veranlasst. Der Hintergrund ist, dass Kinder noch im Prozess sind, ihre Sexualität zu erkunden und ihre sexuelle Selbstbestimmung zu entwickeln.
In Deutschland gilt dies für unter 14-Jährige und mit Einschränkungen auch für 14- bis 17-Jährige. Andere, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO, beziehen sexualisierte Gewalt gegen Kinder generell auf unter 18-Jährige.
Mit dem Begriff "sexuelle Ausbeutung" bezeichnet man alle Formen von sexuellen Handlungen an Kindern oder Jugendlichen durch Erwachsene oder Jugendliche. Die Täter*innen nutzen dabei ihre körperliche, geistige und emotionale Überlegenheit aus, um die eigenen Bedürfnisse durch sexuelle Handlungen mit unter 18-Jährigen zu befriedigen. Dazu gehört unter anderem, dass aus der sexuellen Ausbeutung einer anderen Person ein finanzieller, sozialer oder politischer Nutzen gezogen wird.
Sexualisierte Gewalt kann überall geschehen, wo Kinder und Jugendliche leben, spielen, lernen und betreut werden – in Familien, Schulen, Kindertagesstätten, Stationären Einrichtungen, Freizeiteinrichtungen und Gruppen von Gleichaltrigen. In neun von zehn Fällen sexualisierter Gewalt kommen die Täter*innen aus dem familiären Umfeld des bzw. der Überlebenden und in drei von vier Fällen passiert die sexualisierte Gewalt in der Wohnung des Opfers. Überlebende von familiärer sexualisierter Gewalt sind auch am wenigsten geneigt, ihre Situation offenzulegen– aus Angst, Scham, Hoffnungslosigkeit oder Loyalität den Täter*innen gegenüber.
Laut der UNICEF-Studie „A familiar face“ haben sich nur 1% der jugendlichen Mädchen, die schwere sexualisierte Gewalt erfahren haben, an professionelle Hilfe gewandt - basierend auf Daten aus 30 Ländern.
Kinder und Jugendliche aus prekären sozialen Verhältnissen sind stärker gefährdet, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Diejenigen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben und in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe untergebracht sind, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, wiederholt sexuell ausgebeutet zu werden. Aber auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung erleben mit größerer Wahrscheinlichkeit sexualisierte Gewalt, und auch Kinder und Jugendliche, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans-, intergeschlechtlich und queer identifizieren (LSBTIQ). Unbegleitete Minderjährige in Migration sind ebenfalls besonders gefährdet, sexuell ausgebeutet zu werden.
Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Raum, in dem sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen stattfindet – das Internet.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich Angebot und Vielfalt digitaler Medien und mit ihnen die Kommunikation und das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen rasant verändert. Junge Menschen wachsen weltweit mit digitalen Medien auf und nutzen sie intensiv.
Mit dem Ausbau des 4G-Netzes weltweit vergrößern sich auch die Übertragungsraten und erlauben das Versenden von größeren Bildern und kurzen Videos wie auch Livestreaming.
Fast jedes Kind und jede*r Jugendliche nutzt das Internet, um dort nach Informationen zu suchen, Musik zu hören, Videos anzuschauen und sich vor allem in sozialen Medien mit Gleichgesinnten auszutauschen. Gerade für Menschen mit einer Behinderung, die es schwerer haben, sich im analogen öffentlichen Raum zu bewegen, kann das Internet neue soziale Perspektiven bieten.
Doch ähnlich wie in der analogen Welt kann das Internet einerseits eine Plattform für die positive Erforschung der eigenen Sexualität und die Förderung von sozialen Beziehungen zwischen Kindern sein, andererseits kann es dazu genutzt werden, sexualisierte Gewalt auszuüben und die sexuelle Ausbeutung von Kindern sowohl durch – bekannte und unbekannte – Erwachsene als auch durch Gleichaltrige zu erleichtern, und es ermöglicht den Zugang zu altersunangemessenen Inhalten.
Sexting, (Sex + Texting = Sexting.) das Versenden privater erotischer Sprachnachrichten und/oder freizügiger Selbstaufnahmen (Bilder oder Filme) per Smartphone ist unter Jugendlichen beliebt. Eine Umfrage des Economist ergab: Ein Drittel der Befragten hatte vor ihrem 18. Lebensjahr sexuell eindeutige Online-Inhalte von einem/einer Gleichaltrigen erhalten. Bei den männlichen Befragten war die Quote deutlich höher als bei den weiblichen (37 % gegenüber 25 %). Sexuelle Interaktionen zwischen Gleichaltrigen im Internet sind ein wichtiger Bestandteil der sexuellen Erkundung, des Lernens und des Ausdrucks. Diese Interaktionen bergen jedoch auch Risiken für Kinder, insbesondere im Zusammenhang mit selbst erstellten Inhalten, die zwar freiwillig kreiert werden, aber ohne Zustimmung des Erstellenden weitergegeben werden können. Insgesamt berichtete fast jede bzw. jeder fünfte (18 %) Befragte, dass ein sexuell explizites Bild von ihm bzw. ihr von einem/einer Gleichaltrigen ohne Zustimmung weitergegeben wurde. Diese Zahl war sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Befragten ähnlich.
Bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen werden folgende Aktivitäten der Täter*innen unterschieden:
Dabei erreichen die Produktion und Weitergabe von digitalem Material über sexuelle Ausbeutung jedes Jahr neue Rekordstände. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Eine treibende Kraft ist die rapide wachsende Verbreitung schneller Internetverbindungen und mobiler Endgeräte weltweit. Dadurch erhalten immer mehr Menschen aller Altersgruppen Zugang zum Internet, und eben auch immer mehr Kinder in immer jüngerem Alter. Aber auch die Anzahl der Täter*innen wächst dadurch mit. Letztendlich ermöglicht das Internet eine schnelle weltweite länderübergreifende Verbreitung sexualisierter Gewalt-Inhalte, die überwiegend in der „analogen Welt“ erzeugt werden. Eine Strafverfolgung wird dadurch erschwert. Dies wird beim Livestreaming besonders deutlich.
Viele Livestreaming-Anbieter sitzen in Süd- und Südostasien, mit den Philippinen als derzeitigem Hotspot, während die „Konsumierenden“ und zum Teil auch „Dirigierenden“ dieses Angebotes hauptsächlich in Europa, Nordamerika und Australien sitzen. Da der Livestream nicht gespeichert wird, lassen sich die „Konsumierenden“ im Nachhinein nur schwer rückverfolgen. Zum Teil kommen die Anbieter aus dem kriminellen Spektrum, häufiger jedoch aus dem familiären Umfeld der Opfer. Die gemeinnützige International Justice Mission (IJM) hat sich unter anderem die Bekämpfung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Sklaverei in Entwicklungs- und Schwellenländern zum Ziel gesetzt. Bei der Analyse von Livestreaming-Fällen auf den Philippinen stellte die IJM fest, dass die meisten Täter*innen bzw. Anbieter der Livestreamings (66 %) finanziell motivierte erwachsene weibliche Verwandte oder enge Vertraute der Überlebenden waren, während die Konsumierenden ausschließlich Männer waren.
COVID-19 hat diese Entwicklung weiter beschleunigt. Wirtschaftliche Notlagen, die durch COVID-19 verursacht oder verschlimmert wurden, setzen Kinder und Jugendliche einem größeren Risiko aus, durch Livestreaming missbraucht zu werden. Wenn Familien ihr Einkommen verlieren, steigt mit der Not der Anreiz durch Live-Streaming-alternative Einkommensquellen zu erschließen. Da aufgrund von Lockdowns die Möglichkeiten der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der realen Welt in Pandemie-Zeiten sehr eingeschränkt war, stieg die Nachfrage nach Livestreaming-Angeboten im Globalen Norden.
Darüber hinaus wurde aufgrund der fehlenden sozialen Kontrolle während der Lockdowns ein Zunehmen der häuslichen Gewalt weltweit verzeichnet, sowohl gegenüber Kindern und Jugendlichen wie auch gegen Frauen, sexualisierte Gewalt mit eingeschlossen.
Der durch die Pandemie ausgelöste Rückzug ins Private hat auch dazu geführt, dass einige Kinder und Jugendliche über das Internet Gesellschaft bei Bekannten, aber auch Unterstützung bei Fremden suchen, wodurch sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, über Cyber-Grooming sexuell ausgebeutet zu werden. Die International Watch Foundation (IWF) hat sich das weltweite Aufspüren und Entfernen von Bildern mit sexualisierter Gewalt im Internet zum Ziel gesetzt. Erhielten sie über ihre Hotline im Jahr 2019 38.424 Meldungen über ungewollt verbreitetes "selbst erstelltes" sexuelles Material, überwiegend von Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren, waren es 2020 bereits 68.000 und 2021 182.281 – eine direkte Folge von Sexting und Cyber-Grooming in Zeiten der Pandemie.
Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, reagieren unterschiedlich auf die Geschehnisse. Nach Einschätzung vieler Fachleute sind die Folgen umso schwerwiegender
Die sexuelle Ausbeutung kann das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen untergraben und das Grundvertrauen in andere Menschen zerstören, gerade weil sie häufig durch vertraute Personen wie Eltern, Lehrtätige, Geschwister, Verwandte oder Bekannte ausgeübt wird. Dies ist besonders schwerwiegend, da sich Kinder in ihrem eigenen familiären Umfeld sicher und geborgen fühlen sollten. Da Gewalt meist im Privaten geschieht, wird sie häufig tabuisiert und bleibt nur bedingt sichtbar – auch aus Angst, Scham, Hoffnungslosigkeit oder Loyalität den Täter*innen gegenüber.
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder kann zu einer breiten Palette von nicht-übertragbaren Krankheiten im weiteren Lebensverlauf beitragen. Dazu gehören ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und ein geschwächtes Immunsystem.
Sexuelle Ausbeutung kann zu toxischem Stress führen. Mögliche Folgen: Posttraumatische Belastungsstörungen, Verhaltensstörungen und Depressionen bis hin zum Selbstmord. Auch Suchtprobleme (Alkohol und Drogen), Essstörungen sowie Identitätsstörungen (Borderline-Syndrom) können auftreten. Prostitution und aggressives sexuelles Verhalten, aber auch umgekehrt das Vermeiden von intimen Beziehungen können im späteren Leben die Folge sein.
Ungewollte Schwangerschaften, gynäkologische Probleme und sexuell übertragbaren Infektionen, einschließlich HIV, sind weitere mögliche Folgen.
Gewalt gegen Kinder – insbesondere sexualisierte Gewalt – hat immer auch einen sozialen Kontext, der diese begünstigt oder erschwert. Die Raten von Kindesmisshandlung sind für Kinder in Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status bis zu fünfmal höher als für Kinder in Familien aus höheren Schichten, zeigen nationale Studien beispielsweise aus den USA. Richard Wilkinson zeigte in seiner Studie „The social costs of inequality“, dass dies vor allem dann zutreffend ist, wenn in einem Land die sozio-ökonomische Diskrepanz zwischen arm und reich besonders groß ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsländer handelt. Es sind die Ungleichheiten im sozialen Gefüge, welche die Gesellschaft im Ganzen schädigen. Höhere Raten von Kindersterblichkeit, Kindesmisshandlungen und Schulabbrüchen sind die Folge. Armut, Gewalt und soziale Ungleichheit greifen ineinander und bilden so einen sich selbst verstärkenden Kreislauf über Generationen hinweg – und die Kinder trifft es als erstes und aufgrund ihrer Schutzlosigkeit besonders hart.
Um diesem weitverbreiteten wie komplexen Gewaltphänomen ein Ende zu setzen, werden auch entsprechend umfassende Strategien benötigt, die auf vielen gesellschaftlichen Ebenen ansetzen. Die WeProtect Global Alliance hat ein nationales Aktionsmodell zur Vorbeugung und Bewältigung von sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Es umfasst Maßnahmen auf Regierungsebene wie eine verbesserte Gesetzgebung, auf der Ebene der Gerichtsbarkeit und Strafverfolgung, Strukturen zur Unterstützung und Entschädigung der Überlebenden, Einbeziehung und Regulierung des Privatsektors, insbesondere IT-Unternehmen und Finanzdienstleister sowie Öffentlichkeitsarbeit und Präventionsmaßnahmen. Den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt weiter zu verbessern, bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Die potenziellen Tatorte – Familien, Schulen, Kindertagesstätten, Stationäre Einrichtungen, Freizeiteinrichtungen und Gruppen von Gleichaltrigen – sind aber zugleich auch Orte, die junge Menschen schützen und in ihrer sexuellen Entwicklung positiv stärken können.
Es gibt bereits wirksame Konzepte, wie das bereits evaluierte ReSi-Programm, zur Kompetenzförderung bei Kindern in Kindertagesstätten und die Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte zum Thema sexualisierte Gewalt. ReSi geschulte Kinder weisen ein besseres Wissen über ihren Körper auf und können Gefühle besser unterscheiden und benennen.
Präventionsangebote und Informationsveranstaltungen sind zentrale Elemente, damit Kinder sexuelle Grenzverletzungen schnell erkennen. Sie müssen auf das jeweilige Alter der Kinder zugeschnitten sein. Wenn Kinder frühzeitig wissen, wie schnell intime Bilder in eine größere Öffentlichkeit gelangen können, werden sie vorsichtiger im Umgang mit sozialen Medien. Wenn Kinder die Strategien von Cyber-Grooming und die Manipulationsversuche zu durchschauen lernen, werden sie Versuche der Kontaktanbahnung schneller zurückweisen.
Präventionsangebote zielen darauf ab, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken, Selbstschutzmechanismen zu fördern und über Hilfsangebote zu informieren. Mehr als 17.000 Mädchen und Jungen aus Bolivien, Ecuador, Paraguay, Peru, Honduras und Deutschland haben beispielsweise den Lernparcours „MamMut – Mitmachen macht Mut. Gemeinsam gegen Gewalt“ absolviert und so gelernt, Rollenstereotypen zu durchschauen und „Nein!“ zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu sagen.
Fortbildungen für das Fachpersonal sind ebenso wichtig. Pädagogische Fachkräfte müssen wissen, woran sexualisierte Gewalt zu erkennen ist, was bei einem Verdacht zu tun ist, wie sie mit Betroffenen umgehen sollten, und wo sie sich weitere professionelle Unterstützung holen können. Kinder und Jugendliche, die Überlebende gezielter sexueller Ausbeutung werden, können in den allermeisten Fällen diese nicht aus eigener Kraft beenden.
Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Kinder und Jugendliche nach körperlicher und emotionaler Gewalterfahrung eher an pädagogische Bezugspersonen wenden, wenn das Gruppenklima und der Umgang in der Einrichtung gut und respektvoll sind. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen den pädagogischen Fachkräften. Und je früher sich Betroffene Hilfe holen, desto eher sind sie vor weiteren Übergriffen geschützt.
Darüber hinaus haben sich auch Kampagnen und Petitionen, wie beispielsweise Ghananians against Child Abuse, als wirksam und kosteneffizient erwiesen, um die breite Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, die Bereitschaft, Verdachtsfälle zu melden zu steigern, und eine Stigmatisierung der Überlebenden zu reduzieren.
Kinder und Jugendliche sollten bei der Ausgestaltung von Hilfsangeboten, Kampagnen, Präventionsmaßnahmen und allen Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, unbedingt mit einbezogen werden, um zu garantieren, dass die Angebote und Aktionen auch ihren Bedürfnissen entsprechen.
Für Kinder und Jugendliche bietet das Internet die Möglichkeit, sich über Risiken zu informieren oder auch Rat, Hilfe und Unterstützung zu suchen, ohne ihren Namen nennen zu müssen. Gerade digitale Medien sind daher für Kinder und Jugendliche oft das Mittel der ersten Wahl.
Aber auch Hilfsangebote für potenzielle Täter*innen können präventiv wirken.
Stop It Now! ist die erste vertrauliche Beratungsstelle in Großbritannien und Irland, die Menschen unterstützt, die sich über ihre eigenen sexuellen Gedanken, Gefühle und ihr Verhalten gegenüber Kindern Sorgen machen, entweder für sich selbst oder für eine ihnen nahestehende Person. Ebenso können Menschen dort Verdachtsfälle von Kindesmissbrauch anonym melden.
Die IWF bietet mit ihrer App YOTI Kindern und Jugendlichen anonym die Möglichkeit, intime Bilder von sich im Internet zu melden und entfernen zu lassen. Die Inhalte werden mit einem eindeutigen digitalen Fingerabdruck, einem sogenannten Hash, versehen, der dann an Internetunternehmen weitergegeben wird. Dadurch kann das Bildmaterial eindeutig identifiziert werden. So wird es aufgespürt und gelöscht, auch wenn es vielfach auf verschiedene Seiten hochgeladen wurde und auch ein erneutes Hochladen oder Weiterverbreiten wird unterbunden.
Beratungsstellen für Betroffene und Angehörige sexualisierter Gewalt, die Informationen, telefonische Hotlines und persönliche Beratung anbieten, gibt es allein in Deutschland zahlreiche. Einige wenige Angebote, wie „Trau Dich!“ richten sich gezielt an Kinder. Auch die meisten anderen Länder verfügen über Hotlines und Beratungsstellen. Laut einer UNICEF-Studie ist die Nutzung begrenzt. Gründe für die geringe Meldebereitschaft sind u. a. ein begrenztes Bewusstsein für die Existenz der Hotline, ein begrenztes Bewusstsein für die Schwere der sexualisierten Gewalt gegen Kinder bei den Überlebenden, mangelndes Vertrauen in die Wirksamkeit des Meldesystems und eine allgemeine Zurückhaltung bei der Meldung von Fällen sexueller Ausbeutung von Kindern aufgrund der in einigen Ländern offenbar weit verbreiteten Stigmatisierung der Überlebenden.
Der Schutz vor sexualisierter Gewalt und sexueller Ausbeutung ist in Artikel 34 der verbindlichen UN-Kinderrechtskonvention klar geregelt. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, dass Kinder
Die meisten Länder haben daher auch einen entsprechenden Rechtsrahmen entwickelt. Trotzdem ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen nur sehr begrenzt gegeben, da der überwiegende Teil der Gewalttaten im familiären Umfeld passieren und davon vermutlich nur ca. 1% zur Anzeige gebracht werden. Kinder und Jugendliche benötigen eine weitere erwachsene Vertrauensperson, da sie es in der Regel nicht schaffen, die von den Täter*innen aufgebaute Geheimhaltungs- und Drohkulisse aus eigener Kraft zu durchbrechen.
Hinzu kommt, dass sexuelle Ausbeutung, die über digitale Technologien verbreitet wird, häufig in vielen Ländern noch nicht eindeutig strafrechtlich geregelt ist und daher auch nicht im vollen Umfang verfolgt wird.
Der Ausschuss über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen fordert daher in seinen Allgemeinen Bemerkungen Nr. 25 in Bezug auf das digitale Umfeld die Vertragsstaaten auf, „Kinder vor Gewalt im digitalen Umfeld mithilfe legislativer und behördlicher Maßnahmen schützen, einschließlich der regelmäßigen Überprüfung, Aktualisierung und Durchsetzung umfassender gesetzlicher, regulatorischer und institutioneller Rahmenbedingungen, die Kinder vor bekannten und neu auftretenden Gefahren durch alle Formen von Gewalt im digitalen Umfeld schützen. Solche Gefahren umfassen u.a. physische und psychische Gewalt, Verletzung oder Missbrauch physischer oder psychischer Art, Vernachlässigung oder Misshandlung, sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch, Kinderhandel, geschlechtsspezifische Gewalt, Cyberaggression, Cyberangriffe und Informationskriegsführung. Die Vertragsstaaten sollen Sicherheits- und Schutzmaßnahmen im Einklang mit den sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes umsetzen.“
Unter dem Eindruck der schockierenden Missbrauchsfälle wie in Staufen, Bergisch-Gladbach, Lügde und Münster hat die Bundesregierung am 1. Januar 2022 das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder verschärft. Die Beschaffung und Verbreitung, als auch der Besitz von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern wird seitdem als Verbrechen eingestuft und mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr geahndet. Unklar bleibt nach wie vor, wie die sexuelle Ausbeutung von Kindern per Livestream im Strafrecht erfasst werden kann, da aus juristischer Sicht eine Liveübertragung keine dieser Tatbestände erfüllt. Diese Gesetzeslücke muss in Deutschland dringend geschlossen werden. Nur wenn die „Konsumierenden“ dieses schnell wachsenden Angebotes in den westlichen Industrieländern belangt werden, kann es auch zurückgedrängt werden.
Mit dem Handbuch „Legislating for the digital age“ hat UNICEF mit finanzieller Unterstützung des BMZ und technischer Beratung der GIZ einen Leitfaden zur Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch im Internet entwickelt. Er soll Regierungen, Länderbüros internationaler Organisationen, Organisationen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft dabei helfen, sicherzustellen, dass alle Aspekte der sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs von Kindern im Internet erläutert und in die Gesetzgebung aufgenommen werden, und zwar im Einklang mit internationalen und regionalen Standards und bewährten Praktiken. Dabei soll eine weitere Stigmatisierung oder gar Re-Traumatisierung der Überlebenden im Prozessverlauf ausdrücklich vermieden werden.
Einheitliche gesetzliche und regulierende internationale Standards sind auch vor dem Hintergrund wichtig, dass sie die länderübergreifende Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden fördern und nicht durch ein Geflecht unterschiedlicher Rechtsnormen behindern sollen.
Neben Gesetzeslücken in der bestehenden Gesetzgebung ist die Durchsetzung des Rechts eine weitere Herausforderung im digitalen Raum. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet stellt viele Polizeibehörden vor grundsätzliche Ermittlungsprobleme: am häufigsten sind dies begrenzte digitale Möglichkeiten, unzureichend qualifiziertes Personal und ein mangelnder Zugang zu Instrumenten, die den Ermittlungsprozess beschleunigen.
Die Hauptursache für viele dieser Probleme ist die chronische Unterfinanzierung der Polizeiarbeit. Es sind dringend Investitionen erforderlich, um die digitalen Ermittlungskapazitäten der Strafverfolgungsbehörden weltweit auszubauen und Mechanismen der Zusammenarbeit zu entwickeln und zu verbessern, die für eine wirksame Bekämpfung grenzüberschreitender und technologisch anspruchsvoller Straftaten entscheidend sind. Dabei gibt es immer mehr Technologien, die diese Polizeiarbeit wirkungsvoll unterstützen kann.
In den letzten Jahren gab es erhebliche Fortschritte bei den Online-Sicherheitstechnologien. Wichtige Beispiele sind:
Auch die Straftäter*innen rüsten nach. Ende-zu Ende- Verschlüsselungstechnologien (E2EE) bieten Internetnutzer*innen einen größeren Schutz ihrer Privatsphäre und werden in einigen aktuellen Browsern inzwischen standardmäßig angeboten. Sie untergraben jedoch die Bemühungen, gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern im Internet vorzugehen. Die meisten Erkennungstechnologien (z. B. "Hash-Matching", Algorithmen zur Erkennung von "Grooming", etc.) sind in E2EE-Umgebungen nicht ohne weiteres einsetzbar. Die Grooming-Kriminellen versuchen daher, eine Konversation systematisch von einer öffentlichen Plattform in ein privates Messaging-Forum zu verlagern - eine Technik, die als "Off-Platforming" bekannt ist.
Technologien können sehr hilfreich bei der Erkennung, im Monitoring und letztendlich in der Strafverfolgung sein und unterstützend und eindämmend wirken. Public-Private Partnerships mit Start-Ups, die diese Technologien kontinuierlich weiterentwickeln, sind daher ein Baustein in der Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Sie können die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche jedoch als soziales Phänomen nicht an der Wurzel packen.
Vor diesem Hintergrund ist es auch wichtig, das Thema in der breiteren Öffentlichkeit zu verankern und einen wachsenden sozialen Druck aufzubauen, um die Unternehmen, die sexuelle Ausbeutung im Internet mit ermöglichen – Anbieter sozialer Medien, Messenger Dienste, Clouds, Video-Streams, etc. – wie auch die Zahlungsdienstleister, über die Geldtransfers laufen, stärker in die Pflicht und ggf. Mithaftung zu nehmen.
Fast ein Viertel der von UNICEF untersuchten Länder gibt an, dass es keine Entschädigungs-, Rechtsbehelfs- oder Beschwerdemöglichkeiten für Überlebende von sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen gibt. Dies ist eine kritische Lücke. Die Folgen der sexuellen Ausbeutung von Kindern können weitreichend sein, sich auf alle Lebensbereiche erstrecken und bis ins Erwachsenenalter reichen, mit möglichen Auswirkungen auf mehrere Generationen.
Finanzielle Entschädigungen und ein Rechtsbeistand sind für Überlebende zentral, um ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen und ihre ganzheitliche Genesung zu fördern. Ausreichende, zugängliche und passende Hilfe und Therapien bereitzustellen, wird als eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft bei der Unterstützung der persönlichen Bewältigung aus dem Blickwinkel der Betroffenen gesehen.
In Deutschland haben Überlebende sexualisierter Gewalt Anspruch auf eine kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung und können auf Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) Versorgung erhalten (z.B. Heil - und Krankenbehandlung, Hilfen zur beruflichen Rehabilitation, Beschädigtenrente). Darüber hinaus stellt das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend Hilfsgelder aus dem Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) bereit. Dennoch ist auch das deutsche System lückenhaft. Betroffene berichten, dass sie Therapieunterbrechungen aufgrund fehlender Kassenfinanzierung überbrücken müssen und dass Fachkräfte in Behörden, die über die Versorgung von Überlebenden sexualisierter Gewalt entscheiden, nicht ausreichend qualifiziert sind. Die Betroffenen werden nicht selten als Bittsteller*innen angesehen und nicht als Personen mit einem Anspruch an eine Gesellschaft, die sie als Kind nicht geschützt hat.
Dabei ist eine gesellschaftliche Anerkennung der Schwere des Leids für die Bewältigung des Erlebten für die Betroffenen sehr wichtig – in Form von finanzieller Entschädigung, in Form von Therapie- und Unterstützungsmaßnahmen und in der Form, offen darüber sprechen zu können, ohne eine Verharmlosung oder Stigmatisierung zu erfahren.
Gewalt gegen Kinder hat immer auch einen sozialen Kontext, der diese begünstigt oder erschwert und kommt auf der ganzen Welt vor.
Die Bekämpfung sexualisierter Gewalt und sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen erfordert daher einen umfassenden und integrierten Ansatz. Er umfasst die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit, altersgerechte Präventionsprogramme, die möglichst schon im Kindergartenalter starten sollten, Informationsveranstaltungen für Eltern, Fortbildungsprogramme für pädagogische Fachkräfte und Fachkräfte in Justiz und Strafverfolgung sowie Hilfen für Betroffene – kurzfristig über Webseiten, Apps, Hotlines und Beratungsstellen, langfristig über angemessene finanzielle Entschädigungen und therapeutische Hilfsangebote sowie eine gesellschaftliche Anerkennung der erlittenen Gewalt und Aufarbeitung dieser Verbrechen.
Die Grenzen zwischen der sexuellen Ausbeutung Offline und Online sind fließend. Dennoch entwickelt die technologiegestützte sexuelle Ausbeutung von Kindern ihre eigene Dynamik und erfordert daher spezifische Maßnahmen. Sie erfordert nicht nur die Schließung von Gesetzeslücken weltweit nach einheitlichen Standards, sondern auch eine länderübergreifende Zusammenarbeit von spezialisierten Strafverfolgungsbehörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Privatsektor.
Auf Initiative der australischen Regierung wurde SaferKidsPH gegründet, ein Konsortium von Save the Children Philippines, The Asia Foundation und UNICEF, das sich gemeinsam mit der philippinischen Regierung, zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Privatsektor zum Ziel gesetzt hat, Kinder und Jugendliche in den Philippinen vor sexueller Ausbeutung online besser zu schützen und die Täter*innen in Australien gezielter zu verfolgen. Ein vielversprechendes Praxisbeispiel, das ein Vorbild für andere werden könnte.
Autor: Burkhard Vielhaber in Zusammenarbeit mit dem GIZ Sektorvorhaben Menschenrechte
erstellt im August 2022
Die Inhalte dieses Artikels geben die Meinung des Autors und nicht notwendigerweise die der GIZ oder des BMZ wieder.